Touria Alaoui ist Franko-Marokkanerin, in Spanien aufgewachsen, hat in der Schweiz, in Portugal, den USA gelebt und wohnt jetzt in Deutschland. Auf Einladung der Fondation Hassan II kommt sie nach Rabat zurück und nennt ihre Einzelausstellung „L’origine“ (Der Ursprung). Wurde Touria Alaoui durch die Kulturen der vielen Länder künstlerisch geprägt? Hat sie mit der Rückkehr in ihr Geburtsland ihre Wurzeln wiederentdeckt und ist ihre Ausstellung ein Ausdruck der Heimkehr?
Die Wahrheit ist: Touria Alaoui hat ihre marokkanischen Wurzeln nie verlassen. Alle ihre Arbeiten sind durchzogen von tiefen Farbklängen und strahlendem Licht, die man so nur im afrikanischen Kontinent finden kann. August Macke und Paul Klee orientierten sich nach ihrer Reise in die nordafrikanischen Länder im Jahr 1914 aufgrund dieser Eindrücke künstlerisch ganz neu und veränderten die europäische Kunstgeschichte. Touria Alaoui trägt die Farben-, Formen- und Lichtwelt der nordafrikanischen Kultur schon immer tief in ihrem Herzen und überträgt sie traumhaft in ihre Bilderwelten. Egal, wo sich ihr Lebensmittelpunkt gerade befindet. Touria Alaoui fühlt sich dort zuhause, wo ihr Herz ist.
Marokko grüßt
Dennoch bringt jeder neue Arbeitszyklus eine Veränderung mit sich. Das Leben ist ein Fluss und steter Wandel bestimmt das Sein. Nichts steht still, wie schon der Philosoph Heraklit um 500 vor Christus sagte: „Alles fließt“. Sich diesem Wandel zu überlassen und ihm zu vertrauen, das ist die Grundhaltung der Künstlerin Touria Alaoui. Ihre Bilder wirken frei und grenzenlos, die Formen sind nicht streng voneinander abgegrenzt, sondern aus allen ihren Bildern spricht Bewegung, Überlagerung und Durchdringung von Flächen und Farben. Ihre Abstraktionen sind weniger geistiger Natur, wie z.B. bei Kandinsky, sondern vielmehr von Gefühl, Emotion und Intuition durchdrungen.
In den neuen großformatigen Bildern aus dem Jahr 2023 sind viele Bezüge zum Land Marokko enthalten. In „Bab El Bhar“ (Tor des Meeres) ist ein Stadttor von Rabat zeichnerisch angedeutet und umgeben und überwuchert von einem Form- und Farbenrausch. Ornamente wie ein labyrinthisches Straßengewirr erinnern an die von Mauern umgebene Medina, die Altstadt mit ihren Märkten, ihrer Architektur und Tradition. Ströme von blauem Licht und Wasser durchziehen das Bild, Plätze voller Leben und Lebendigkeit verbinden das Alte mit dem Neuen.
Das Bild „Dakhla“ ehrt die gleichnamige Wüste im südlichen Teil von Marokko. Aus einem hellen sandfarbenen Grund lösen sich einzeln Formen und Farben, Pflanzen, Blätter und Palmen, verschlungene Ornamente als Zeichen einer alten Kultur zieren Objekte mit Goldrand und blaue Flächen erscheinen als Quelle allen Lebens.
Das gegenständlichste Bild dieser Reihe „Minarett“ zeigt rechteckige Formen, unschwer als Turm, Mauer, Haus und Säulen zu erkennen, in einer dunkel-blau-grünen Landschaft gelegen mit Palmen und dem Meer, in dem sich der helle Himmel spiegelt. Das Bild spricht durch seine tiefe und ausgewogene Farbharmonie, es steckt voller Geschichte und erzählt vom Hassan-Turm, dem unvollendet gebliebenen Minarett der ebenfalls unvollendeten Großen Moschee in Rabat.
Reichtum der arabischen Welt
Touria Alaoui malt in der Tradition des islamischen Kunstverständnisses, weniger bildhaft, sondern mehr mit der Darstellung von Symbolen, Ornamenten, geometrischen Mustern und Kalligraphie. Ihre Bilder sind aber nicht im strengen Sinn der islamischen Religion zu lesen, sondern als Ausdruck einer spirituellen und mystischen Grundhaltung, mit der die Künstlerin der Welt malerisch begegnet. Mit ihren poetischen Bildern gelingt es Touria Alaoui spielerisch, die Tiefe und den Reichtum der arabischen Welt auch für diejenigen zu öffnen, die weniger mit den Symbolen und Motiven der islamischen Welt vertraut sind.
In ihren Werken spiegeln sich persönliche Erlebnisse und Erfahrungen wider. Dabei geht es ihr um die Liebe zum Meer und zum Licht, die Vergänglichkeit alles Irdischen, den Zusammenhalt der Menschen, die Überwindung von Grenzen, die Schönheit der Natur, den Ausweg aus Lebenskrisen und die Kraft der Geduld.
Die Bilder „Frontière“, „Fusion“, „Amazigh“ und „Ancêtres“ setzen sich vorwiegend aus übermalten quadratischen und rechteckigen Formen zusammen. Die Intensität dieser Bilder ergibt sich aus einer formalen Strenge, kombiniert mit einem freien und lebendigen Malauftrag, vielen unterschiedlichen Ornamenten und einem überbordenden Reichtum an Farben und Kontrasten.
In „Frontière“ (Grenze) zieht eine farbige und strukturreiche Fläche quer durch das Bild, angedeutete horizontale und vertikale Striche können als Abgrenzung gedeutet werden und am oberen Bildrand glitzert ein leichter Goldregen. Alles wird zusammengehalten und verbunden durch eine tiefe blaue Farbigkeit in allen Bildteilen, die den Bildtitel ernst und optimistisch konterkariert.
Die Wichtigkeit der „Ancêtres“ (Ahnen) wird in dem gleichnamigen Bild thematisiert. Wieder sorgen blaue Flächen für die Verbindung von allem mit allem. Verschieden farbige geometrische Muster sind wie Tafeln im Raum aufgeteilt und stehen im Kontrast zu einer organischen Struktur mit durcheinandergewürfelten bunten Stäben.
Spirituelle Tradition
Die Farben mit den Touria Alaoui malt, ähneln den Düften eines orientalischen Marktes und sind so intensiv wie die plötzliche Erinnerung an Kindheitserlebnisse, die durch einen Geruch ausgelöst werden können. Der „Geschmack … des kleinen Madeleine-Stückes“, mit dem Marcel Proust in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ in seine Kindheit zurückkatapultiert wird, lässt grüßen. Und wie die nicht enden wollenden verschlungenen Sätze von Proust scheinen die sinnlichen Bilder von Touria Alaoui keinen Anfang und kein Ende zu besitzen. Sie laden daher weniger zum schnellen Erkennen und der Bestätigung einer festen Meinung ein, sondern vielmehr zur Versenkung in Schönheit, Stille und Offenheit.Aus den Werken von Touria Alaoui spricht eine tiefe spirituelle Abstraktion. Spirituell, weil sich ihre Bilder als Haltung des Glaubens deuten lassen und in ihnen immer das Überlassen an etwas Größeres und Heiliges zu spüren ist. Spirituelle Abstraktion, weil in der dargestellten Gegenstandslosigkeit das eigene Ego gegenüber einem tiefen Gefühl der Verbundenheit aufgelöst wird. Wunderbar auch zu sehen auf dem Bild „Sabri“, ein Ausdruck für Ausdauer, Geduld und Kraft. Mit warmen Erdfarben gemalt, Flächen wie Häuser und Straßen, ein vielstimmiges Durcheinander und dem arabischen Schriftzug „Gott gibt dir Geduld“, der sich in die allgemeine Struktur des Bildes einpasst. Die vielschichtige Farbigkeit besitzt Tiefe und Schwere, Ruhe in der Bewegung und Stille im endlosen Dialog der Gedanken.
Voll tiefer Schönheit strahlt auch das Objekt „Prière“ (Gebet), 12 Kaftan-Formen, die an den Händen miteinander verbunden sind. In den negativen Zwischenräumen formen sich die Figuren noch einmal, die feinen Farbschichten sind von einem Rostaufstrich durchzogen, der die Figuren einer zeitlichen Veränderung überlasst. Touria Alaoui bezieht sich in dieser Arbeit auf die „Hand der Fatima“, ein islamscher Volksglauben und ein spirituelles Symbol für Schutz. Die Aneinanderreihung der Figuren wirkt wie ein heiliges Amulett und ist gleichzeitig ein Ausdruck von Solidarität zwischen den Menschen.
Ältere Arbeiten
Während die neuen Bilder in dieser Ausstellung mehr in sich ruhen und nicht suchen, sondern finden, erzählt der ältere Bilderzyklus „Labyrinth“ aus dem Jahr 2013 eine andere Geschichte. Labyrinthische Formen stehen als Paar einzeln und klein auf einer großen Fläche, jeweils vor den Elementen Luft/Wasser, Erde/Wüste und Feuer. Die Hintergründe sind von lebendigen und ungeordneten Naturmustern durchzogen, die runden Labyrinthe wirken wie Fremdkörper, die über ihnen schweben. Hier stehen die Fragen von Abgrenzung und Zusammenhang, Individualität und Kosmos im Vordergrund, die Natur ist übermächtig und das Ich auf der Suche.
Leichtigkeit und Fröhlichkeit sind dagegen in der Serie der „O-Luft“ Bilder aus dem Jahr 2021 zu finden. Sie lassen fühlen, dass die Luft kein leerer Raum ist, sondern ein Raum voller Energie und Kraft. Vor einem türkis-tiefblauen Grund schweben graue Ringe und sich auflösende bunte Flächen durch das Bild, helles Licht strahlt in die Dunkelheit, ein fröhliches Getümmel der Atome wie ein Blick in die Unendlichkeit des Weltraums.
Mit der Rückkehr nach Marokko zu ihrem Ursprung ist die tiefe Verbundenheit von Touria Alaoui mit ihren kulturellen Wurzeln in jedem Werk spürbar. Ihre Arbeiten verbinden die Kulturen miteinander und sind von einer reichen Spiritualität durchdrungen. Sich den Bildern von Touria Alaoui hinzugeben, heißt, sich fallen und tragen zu lassen, keine Festlegung zu dulden und die Freiheit zu genießen.
Martin Ganzkow
Medien